Mittelstand 4.0

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Katja Boecker und Josha Kneiber in der eTransport Montagehalle bei BPW in Wiehl: Hier werden Diesel-LKW auf Elektroantrieb umgerüstet. Das UPS-Fahrzeug absolviert bereits Testfahrten im Großraum Köln.

„VERNETZUNG IST DAS A UND O“

PROF. DR. GÜNTHER SCHUH ÜBER DIE CHANCEN DER INDUSTRIE 4.0 FÜR DEN MITTELSTAND, DAS NUTZFAHRZEUG DER ZUKUNFT – UND MIT WELCHEN IDEEN DIE TRANSPORTBRANCHE LÄNGST VORREITER DER DEUTSCHEN WIRTSCHAFT IST.

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Professor und Kommunikator: Prof. Dr. Günther Schuh präsentiert das von ihm entwickelte Konzeptfahrzeug „e.GO Life Concept Sport“ – der rasante Stadtflitzer ist aufgrund innovativer
Fertigungstechniken extrem preisgünstig. NRW-Ministerpräsident Armin Laschet gehört zu den ersten Kunden und holte sein Fahrzeug persönlich am Aachener Fertigungsstandort ab.
Quelle: e.GO Mobile AG

PROFESSOR, GRÜNDER UND UMTRIEBIGER VISIONÄR

Elektrofahrzeuge, Batteriezellen und neuerdings auch Lufttaxis – Prof. Dr. Günther Schuh (geb. 1958 in Köln) treibt innovative Projekte in Serie voran. Der Professor für Produktionstechnik an der RWTH Aachen beschränkt sich nicht auf Lehrmeinungen: Mit dem elektrischen Postfahrzeug „StreetScooter“ mischte er die Automobilindustrie auf. Inzwischen fertigt er mit dem „e.GO“ in Aachen einen rasant gestylten elektrischen Stadtflitzer für rund 12.000 Euro. Zuletzt half der umtriebige Professor dem NRW-Ministerpräsidenten Armin Laschet dabei, die Forschungsfabrik für Batteriezellen, die der Bund mit 500 Millionen Euro fördern will, nach NRW zu holen. Günther Schuh ist begeisterter Hobbypilot – und will schon ab 2024 in Aachen mit einem neuartigen elektrohybriden Lufttaxi abheben: praktisch lautlos und rund 300 km/h schnell.

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„Wir haben die Möglichkeit, jetzt Ökonomie und Ökologie fundamental weiterzubringen.“

Herr Professor Schuh, wie wird sich die Transport- und Logistikindustrie Ihrer Meinung nach in den nächsten zehn Jahren entwickeln – auf welche Veränderungen müssen sich Fahrzeughersteller, aber auch Transportunternehmer einstellen?

Es gibt zwei Bereiche, die wir meiner Meinung nach massiv verbessern müssen: Stau und Emissionen. Den Staus könnte man zum Beispiel begegnen, indem sich die Zeiten, in denen Waren transportiert und angeliefert werden, verändern und man etwa Lebensmittel nachts in die Supermärkte bringt. Zwingende Voraussetzung dafür ist aber, dass die gesamte Anlieferung und auch der Verladeoder Entladevorgang sehr leise passieren. Des Weiteren müssen wir zumindest im urbanen Umfeld nicht nur leise, sondern auch emissionsfrei oder wenigstens emissionsarm fahren. Daher gehe ich davon aus, dass wir auch in der Transportindustrie bei den Nutzfahrzeugen in Zukunft deutlich stärker andere Antriebskonzepte nutzen werden als bisher. Bei schweren Lkw wird das nicht rein batterieelektrisch funktionieren, sondern hier braucht es Hybridantriebe, zum Beispiel in Form von ergänzenden Brennstoffzellen als Range Extender.

„Niemand kann heute ganz allein etwas Substanzielles für unsere Gesellschaft oder Wirtschaft erfinden.“

Es braucht also Innovationen. Woher nehmen Sie persönlich den Mut, völlig neue Fahrzeug- und Mobilitätsprojekte zu verwirklichen?

Sie treten damit ja immerhin in Konkurrenz zu etablierten Weltkonzernen. Ich empfinde das weniger als Konkurrenz, sondern sehe mich weiterhin vor allem als Forscher, der ja de facto so etwas wie ein Pfadfinder ist. Ich habe für mich irgendwann festgestellt: Wenn man zu Konzepten nur Veröffentlichungen schreibt oder Vorträge hält, ermöglicht das nicht die gewünschte Aufmerksamkeit, die man benötigt, um Konzepte großindustriell auszuprobieren. Mit der e.GO Mobile AG als Ausgründung der RWTH Aachen haben wir die nötige Infrastruktur, vor allem aber auch die finanziellen Mittel, um auf eine erste Flughöhe zu kommen und Mobilitätskonzepte wie das derzeit bezahlbarste Elektrokleinfahrzeug auf den Markt zu bringen. Ich kann mich im Moment nur darüber freuen, dass unsere Konzepte jetzt viel stärker wahrgenommen werden und wir in vielen Punkten auch schon Mittäter, Nachahmer und vielleicht auch zukünftige Konkurrenten provozieren – was der Branche insgesamt guttut.

Bester Zulieferer: BPW erhält den „Best of Mobility Award“ von den Lesern des Fachmagazins VISION MOBILITY.
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Mit diesem Unternehmen haben Sie in Aachen aus der RWTH eine wohl einzigartige Infrastruktur für die Entwicklung und den Bau neuer Fahrzeuge geschaffen. Darüber hinaus verfügen Sie nicht nur über exzellentes Marktund Technikwissen, sondern auch über Top-Kontakte in die Politik und in die Fahrzeug- und Zulieferindustrie. Wie wichtig sind solche Netzwerke für Ihre Arbeit?

Die sind das A und O. Ich denke, niemand kann heute mehr alleine etwas Substanzielles für unsere Gesellschaft und Wirtschaft erfinden. Wir brauchen immer eine konzertierte Aktion von größeren Konzernen ausgehend, aber oft eben auch darüber hinaus, und da ist man manchmal als kleiner Player gar nicht so wenig erfolgreich. Wir können mit unserem RWTH Aachen Campus viele Firmen anlocken, die genauso neugierig und innovationsfreudig sind und die erst mal mit uns etwas ausprobieren, sodass ein Proof of Concept entsteht. Dann ist die Qualität der Diskussion eine ganz andere. Wenn man für diesen Prozess Partner in großen Unternehmen braucht, die auf Top-Management-Ebene arbeiten und sich mutig auf Neues einlassen, dann hilft es natürlich, wenn das Personen sind, bei denen schon ein wechselseitiges Vertrauen da ist. Wenn man sich nicht kennt, denkt der Vorstand eines Technologiekonzerns sicher schon mal, was ihm jetzt dieser Professor aus seinem vermeintlichen Elfenbeinturm der Wissenschaft heraus sagen will. Wenn man sich aber kennt und er einem zutraut, dass vernünftige Ergebnisse entstehen, ist das viel einfacher.

Deutschland ist das Land kleinerer und mittlerer Unternehmen, gerade auch in der Zulieferindustrie und im (Transport-)Fahrzeugbau. Viele sind hochgradig spezialisiert und verfügen über exzellentes Fachwissen – tun sich aber schwer damit, neben dem Tagesgeschäft auch den Zugang zu innovativen Initiativen und Netzwerken zu entwickeln. Wird die Zukunft des Transports nur von den ganz Großen gemacht?

Ich weiß: Der Mittelstand stellt sein Licht manchmal selbst unter den Scheffel und sagt: „Wir können das nicht alles so wie die Großen.“ Aber die Realität sieht anders aus, das kann man beispielsweise bei BPW sehen: Wie viele VorreiterInnovationen sind schon von BPW vorangetrieben worden, und zwar schneller, als der eine oder andere große Wettbewerber oder auch Abnehmer das erreicht hätte! Das ist eine Besonderheit gerade des deutschen Mittelstandes. Er ist nicht nur groß und stark vertreten, sondern gerade in technologischer Hinsicht hochgradig qualifiziert. Wenn man dann noch die Hinwendung zu Industrie 4.0 sieht, kann ich gar kein Defizit mehr in der Entwicklung der kleineren und mittleren Unternehmen in Deutschland erkennen.

„Neue Geschäftsmodelle brauchen ein konkretes Nutzenversprechen. Die Nutzfahrzeugsparte macht vielen anderen Branchen schon vor, wie es geht.“

Doch in welchem Maß ist Industrie 4.0 für kleinere und mittelständische Fahrzeugbauer überhaupt anwendbar? Im Gegensatz zur Pkw-Produktion ist ja gerade der Trailerbau hochgradig spezialisiert. Das bedeutet viel Handarbeit – sowohl bei der Konstruktion, Montage wie den kaufmännischen Prozessen. Wie können Fahrzeugbauer in Industrie 4.0 einsteigen?

Industrie 4.0 ist gerade für solche Fälle besonders hilfreich, weil sie nicht für „automatisiert“ im Sinne von robotisierter Serienproduktion steht, sondern für digitale Vernetzung der wichtigsten Applikationssysteme aus der Entwicklung, Produktionsplanung und Steuerung sowie aus der Supply Chain. Wenn ich eine kundenspezifische Lösung bauen will, ist es ganz entscheidend, dass ich nie bei null anfange, sondern auf ein Gerüst meiner bisherigen Konstruktion und Erfahrung aufsetzen kann. Weil dann nahezu alles, was ich für den Kunden mache, eine Applikationsentwicklung ist, die dadurch in ihrer Robustheit, Qualität und Reife von den bisherigen Projekten stark profitiert. Denn ich kann dann ja auf alle Daten und Erfahrungen und zum Beispiel das Änderungs- und Verbesserungsmanagement der früheren Versionen zurückgreifen.

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Die Vorbereitung zur Serienproduktion der elektrischen Antriebsachse eTransport läuft auf Hochtouren: vorn im Bild die fertige Achse auf dem Prüfstand. Dahinter wird die Rekuperationsbremse montiert. Sie gewinnt Bremsenergie als elektrischen Strom zurück.

Insofern ist gerade eine solche kundenspezifische Produktion schon im Customizing-Prozess eine viel bessere Leistung, wenn man auf eine Industrie-4.0- Infrastruktur zurückgreifen kann, und sie kommt dem Kunden zusätzlich zugute, weil ich genau dieses Datenrückgrat auch für das Aftersales verwenden kann. Ich weiß ganz genau, was ich in jedem Einzelfall dem Kunden in seine Lösung eingebaut habe, und kann beispielsweise auch bei einer nächsten Version sagen, ob diese upgradefähig ist und so weiter. Alle diese Parameter sind heute übergreifend über das Applikationssystem Bestandteil des gesamten Prozesses, also nicht nur in der Sammlung der Stammdaten im ERP. Sie machen Customizing viel effizienter und sind deswegen nicht nur für die Serien-Pkw-Produktion geeignet, sondern gerade auch für die Einzel- und Kleinserienproduktion im Lkw- oder Aufbauten-Geschäft.

Industrie 4.0 bedeutet nicht nur eine vernetzte Produktion, sondern auch vernetzte Geschäftsmodelle – und Kooperationen jenseits der klassischen „vertikalen Denke“. Mangelt es der etablierten Industrie in Deutschland hierbei eher an Mut oder an Ressourcen?

Ich glaube vielmehr, dass uns das Zielbild der neuen Geschäftsmodelle nicht so richtig klar ist und wir deshalb zwar digitalisieren und auch die einzelnen Applikationssysteme stärker integrieren, aber noch nicht vollständig vor Augen haben, was wir damit erreichen können. Die neuen Geschäftsmodelle können darauf abzielen, dass man ein noch viel konkreteres, verbindlicheres Nutzenversprechen abgibt. Gerade die Nutzfahrzeugsparte macht das vielen anderen Industriesparten schon vor. Wenn der typische Flottenkäufer heute 120 Fahrzeuge im Peak braucht, dann kauft er bei einem OEM 100 Lkw und leiht sich die restlichen 20 in den Tagen und Wochen, an denen der Peak-Bedarf auftritt. Er kauft sich damit eine gewisse Mobilitätsgarantie.

So ein Subskriptionsmodell gehört zu den neuen Möglichkeiten, über die man mit Hilfe der Digitalisierung erreicht, dass der Kunde selbst und dann auch der Lieferant viel genauer wissen, was der Kunde wann und wo braucht. Wenn wir es dadurch schaffen, weniger Überkapazitäten vorhalten zu müssen, und das Gesamtsystem noch effizienter nutzen können, sieht man, was eigentlich mit neuen Geschäftsmodellen alles noch zu erreichen ist. Gerade die Nutzfahrzeugbranche hat in den vergangenen Jahren wunderbar vorgemacht, wie sie das in der Praxis nutzt, indem sie zum Beispiel angefangen hat, Leerfahrten konsequent zu minimieren.

„BPW treibt viele Innovationen schneller voran als große Wettbewerber.“

Wenn wir uns den Lkw von heute anschauen, dann sehen wir einen Fahrer, der hoch über der Straße thront – unter ihm ein mächtiger Dieselmotor. Wie könnte Ihrer Meinung nach das Transportfahrzeug der Zukunft aussehen?

Es wäre ja jetzt großartig, wenn wir nicht bei allen, aber doch bei vielen Fahrzeugen – insbesondere bei denen, wo es eher auf das Volumen als auf das Gewicht ankommt – den Vorteil eines anderen Powertrains dafür nutzen würden, dass wir mehr Kubikmeter auf derselben Grundfläche unterbekommen würden. Wenn wir uns vorstellen, dass wir zum Beispiel einen elektrisch angetriebenen Lkw mit einer mittelgroßen Batterie und etwa einer mit Wasserstoff angetriebenen Brennstoffzelle ausrüsten, dann stell ich mir vor, dass der Lkw-Fahrer nicht mehr über dem Motor thront, weil es den Motor da gar nicht mehr gibt. Der Motor ist viel unauffälliger und idealerweise in einer Fahrzeugachse integriert – so wie das BPW gerade vormacht. Der Fahrer sitzt also wesentlich niedriger. Er fährt eher wie in einem Pkw – nur mit einem größeren Gespann hinter sich. Man kann dann auch über dem Fahrer zusätzlichen Laderaum schaffen. So könnten wir den Raum im Lkw der Zukunft deutlich besser nutzen und damit auch die Transportleistung nochmal deutlich günstiger machen.

Es würde also einen weiteren wichtigen Schritt in Richtung mehr Effizienz bedeuten?

Absolut! Ich glaube, dass gerade mit diesen Schritten Ökologie und Ökonomie gleichermaßen substanziell verbessert werden können. Dazu muss aber das intelligente Antriebskonzept auch dem jeweiligen Anwendungsfall entsprechend ausgelegt werden. Zum Beispiel könnte ein elektrisch angetriebener Lkw mit einer voll integrierten Achse ausgestattet sein, welche die Last trägt, also den Motor oder die Motoren, und auf andere Bauteile wie das Differential kann man dann verzichten. Damit wird das Fahrzeug in seinem Wirkungsgrad deutlich effizienter – und das sind große Chancen, die sich für das Transportfahrzeug der Zukunft hier abbilden.

„Ein Ingenieur will eigentlich immer die Welt verbessern.“

Ein elektrisches Transportfahrzeug muss heute mehr leisten, als nur von A nach B zu fahren. Inwieweit müssen auch die Transportprozesse neu gedacht werden? Und welche Umstellung, welches Umdenken nötigt das den Transportunternehmen, also den Spediteuren, ab?

Ich glaube, im multimodalen Verkehr muss es noch mehr zu einer Gesamtoptimierung kommen. Wir müssen insbesondere auch sehen, dass wir nicht nur den Verkehr noch sicherer machen, sondern dass wir auch die Einsatzzeiten der Fahrer günstiger machen. Ich habe da immer den Gedanken, dass die Manövrier- und Rangierarbeiten beim Be- und Entladen von Fahrzeugen zu den leichtesten Übungen gehören und man sie zum Beispiel durch ein Level-2- oder Level-3-Assistenzsystem gut im Nutzfahrzeug unterbringen könnte. Damit würde man insbesondere in den Nebenzeiten Personalkosten sparen.

Warum engagieren Sie sich für diese Themen, was treibt Sie persönlich an?

Wir stehen an einem Punkt, an dem wir gesellschaftlich dringend einen Durchbruch erzielen müssen, und es ist einfach ein überwältigendes Gefühl, wenn man quasi an den Fingerspitzen spüren kann, dass es gehen könnte: dass wir die technischen Möglichkeiten und die Ideen haben, um regelrecht revolutionär und fundamental Ökologie und Ökonomie weiterzubringen. Wenn man da ein bisschen mittreiben kann und vielleicht auch hier und da ein bisschen als Katalysator mitwirken darf, um der Gesellschaft und den nächsten Generationen einen großen Vorteil zu verschaffen, dann finde ich das ungefähr das Befriedigendste, was man überhaupt machen kann. Insbesondere für einen Ingenieur, der ja eigentlich immer die Welt verbessern möchte. Und wenn die technischen Möglichkeiten gerade fast auf dem silbernen Tablett liegen und man sie mit zusammenstecken kann, ist das einfach eine tolle Zeit und wunderschön, dass man daran mitwirken darf.